Ein Viertel wehrt sich gegen den schlechten Ruf RP vom 05.04.2021

Ein Blick in die Rheinberger Reichelsiedlung, in der rund 2400 Menschen aus 47 Nationen leben. Die meisten Häuser dort sind in den 50er und 60er Jahren entstanden. Foto: Armin Fischer ( arfi )
Die Reichelsiedlung ist ein Rheinberger Stadtteil mit einem hohen Ausländeranteil.
Die Bewohner sehen sich deshalb mit vielen Vorurteilen konfrontiert.
Ein Rundgang durch das Viertel.
Peter Mokros breitet die Arme aus. Der Lokalpolitiker schaut in die Eschenstraße hinein und lenkt den Blick auf die Bäume. „Sie ist wie ein Allee. Im Sommer gehört die Eschenstraße zu den schönsten Straßen in Rheinberg“, sagt Mokros. Seine Aussage passt so gar nicht zum allgemeinen Ansehen des Stadtteils, zu der die Eschenstraße gehört. Der Grünen-Ratsherr versucht seit Jahren, das Image der Reichelsiedlung aufzupolieren. Selbiges Ziel verfolgt Jussef Jussef, ein gebürtiger Syrer, der hier viele Bewohner kennt. Das Viertel mit rund 660 Wohnungen und dem höchsten Ausländeranteil Rheinbergs hat seinen Ruf weg. Schmutzig, schäbig, heruntergekommen, mitunter gefährlich, eine Parallelgesellschaft. Ein Rundgang.
„Die meisten Vorurteile stimmen nicht. Klar, ist hier nicht alles toll. Aber so schlimm, wie’s sich die Leute gerne erzählen, ist es bestimmt nicht“, meint Jussef Jussef. Der 58-Jährige sieht sich als Vermittler zweier Welten. Im dem Viertel nennen sie ihn schon mal „Herr Lehrer“. Eine Respektsperson eben. Er wird gern als Übersetzer dazu geholt. Jussef und Mokros kennen sich gut. Beide haben vor einigen Jahren Inter Rheinberg trainiert, eine Fußball-Mannschaft für und mit Einwanderern.

Der in Homs geborene Ghassan verkauft in der Reichelsiedlung arabische Waren aus einem Kastenwagen heraus. Foto: RP/René Putjus
Info
2400 Menschen aus 47 Nationen
Reichelsiedlung In dem Stadtviertel wohnen zurzeit etwa 2400 Menschen, davon rund 800 mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Insgesamt leben dort Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus 47 Nationen. Die meisten Häuser sind in den 50er und 60er Jahren entstanden. Der Textilunternehmer Herbert Reichel ließ sie bauen.
Quartiersbüro Es ist 2016 aus dem Zusammenschluss von vier Kooperationspartnern entstanden: der Grafschafter Diakonie, der Evangelischen Kirchengemeinde Rheinberg, Investoren in der Siedlung und der Stadt Rheinberg. Gefördert wurde das Projekt von 2016 bis 2019 durch die „Stiftung Wohlfahrtspflege“. Die Kooperationspartner einigten sich auf eine weitere Finanzierung bis 2021. Die Leitung übernahm die Stadt Rheinberg.
Jussef begrüßt einen jungen Mann mit dicker Mütze – auf Arabisch. Hamo Qasim Kalaf läuft die Buchenstraße entlang Richtung Penny-Markt. Die Buchenstraße ist der Eingang in die Reichelsiedlung. Kalaf aus dem Irak kam vor fünf Jahren nach Rheinberg. Seine Familie flüchtete über die Balkanroute. Er sei glücklich, in Deutschland leben zu dürfen. Kalaf war Teil von Inter Rheinberg. „Ein ganz lieber Kerl“, sagt Mokros. Jussef winkt einem Mann zu. Der 25-Jährige heißt Jamil. Seinen Nachnamen will er nicht nennen. Anfang vergangenen Jahres lebte er noch im Norden Syriens in Aleppo. Der Vater zweier Kinder fühlt sich in Rheinberg gut aufgenommen: „Deutschland hat gute Gesetze, doch leider halten sich viele Leute nicht daran.“ Der Syrer, der in einem der Hochhäuser an der Buchenstraße lebt, regt sich darüber auf, dass in den Fahrstühlen trotz Verbotsschildern geraucht wird.
Beschwerden zu den Fahrstühlen sind auch an Jussef herangetragen worden. Allerdings hatte das einen anderen Hintergrund. „Die Kinder spielen in den Fahrstühlen und fahren damit. Das macht sich auf der Stromrechnung bemerkbar. Viele Bewohner wundern sich dann über eine Nachzahlung.“
Vor der Begegnungsstätte Reichelsiedlung an der Eschenstraße steht eine Frau mit Rastazöpfen. Maureen Miller-Welters, eine gebürtige Jamaikanerin, kennt Jussef und Mokros. Sie lebt schon mehrere Jahre in dem Viertel, arbeitet als Hausmeisterin in der Begegnungsstätte und wohnt im Obergeschoss. Miller-Welters gehört zu den Menschen, die die Integration vorleben: „Das ist hier kein Ghetto. Wenn man auf die Leute zugeht, kann man sie sehr gut kennenlernen. Dreck gibt’s überall, hier wird der Dreck aber anders gewertet.“ Das schlechte Image sei zum Teil auch herbeigeredet von Rheinbergern, die noch nie in der Siedlung gewesen seien. „Ich finde es hier schön.“
Auf dem Spielplatz um die Ecke haben drei Jungen mächtig Spaß. Unbeschwert, lachend, die Probleme vor Ort sind in diesem Moment weit entfernt. Probleme gebe es natürlich in der Reichelsiedlung. Die will Jussef nicht wegdiskutieren. Auslöser seien immer wieder Belanglosigkeiten, mitunter auf die ethnische Herkunft zurückzuführen. Er spricht die Konflikte zwischen Arabern und Kurden an, von Herrschern und Unterdrückten. „Und es ist ein Unterschied, ob jemand vor der Flucht nach Deutschland in einem Dorf oder einer Großstadt gelebt hat. Es hat was mit Ansehen zu tun“
Jussef kommt mit einem Herrn ins Gespräch, der gerade mit seiner Tochter ein Mehrfamilienhaus verlässt. Er sei Albaner, 47 Jahre alt, habe mal woanders gewohnt und sei 2014 in die Reichelsiedlung zurückgekehrt. Der Familienvater spricht von Parkplatz-Engpässen im Viertel und von Schmutz auf den Straßen. „Die Kehrmaschine muss öfter vorbeikommen.“
Von der Akazienstraße ist Lärm zu hören. Baulärm. Dort entstehen zwei Wohngebäude mit Sozialwohnungen. In einem der Häuser kommt die neue Kindergartenstätte unter. Jussef begrüßt die Investition, sagt aber auch, dass mehr Geld in die alten Bestandswohnungen gesteckt werden müsse. Sein Blick geht auf die andere Straßenseite gegenüber der Baustelle. Ihn wurmt es, dass die Reichelsiedlung so einen schlechten Ruf hat. Er setzt sich schon viele Jahre für die Belange der Migranten ein, die hier eine Unterkunft gefunden haben: „Ich fühle mich dazu verpflichtet. Ich möchte den Menschen ein Bild von Deutschland geben, ihnen erklären, wie dieses Land funktioniert.“ Das hatte Jussef gefehlt, als er mit 19 Jahren Syrien verließ, über den Libanon und die DDR in die Bundesrepublik einreiste. „Integration fängt mit der Sprache an. Das habe ich schnell verstanden und weise darauf heute immer wieder hin.“ Eine wichtige Arbeit, die auch ein Sozialarbeiter übernehmen könnte. Peter Mokros und die Grünen werben gerade im politischen Raum dafür, Geld für eine solche Stelle bereitzustellen.
Auf einem Hof an der Ahornstraße parkt ein weißer Mercedes-Sprinter mit Bottroper Kennzeichen. Die Schiebetür steht auf. Der Fahrer stellt sich als Ghassan vor. Er spricht deutsch und arabisch. Homs sei seine Heimatstadt gewesen. Der Sprinter ist ein Tante-Emma-Laden auf Rädern. In den Holzregalen liegen Spezialitäten aus dem arabischen Raum. Dattelkekse, Falafel, Gewürze, Süßigkeiten. Einmal die Woche, meistens freitags, steuert Ghassan die Reichelsiedlung an. Vor dem Sprinter steht einer der Stammkunden. Seine Frau hat Kaffee gemacht. Mit Kardamom. Frisch aufgebrüht. Ihr Mann gießt den Kaffee ein. Der exotische Geschmack löst bei Jussef ein breites Grinsen aus.
Diese Offenheit vermisst der Geschäftsmann bei den Rheinbergern mit ihren Vorurteilen über die Siedlung. Zurück auf der Buchenstraße fällt sein Blick aufs Quartiersbüro der Stadt, in dem Integrationsfachkraft Sarah Bernstein Ansprechpartnerin für die Bewohner ist. Heute ist es schon zu.
Jussef Jussef bleibt vor der Moschee stehen. Er wirkt nachdenklich und weist nochmals auf die Sprache als wichtigsten Baustein der Integration hin. „Die Imame, die aus der Türkei kommen, müssen viel mehr in deutscher Sprache predigen.“ Am Ende der Buchenstraße, Ecke Annastraße, unweit vom Penny-Markt liegt die Pizzeria Il Capo. „Die gibt’s noch nicht lange. Da wollte ich auch nochmal hin“, sagt Jussef Jussef. Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis er wieder in der Reichelsiedlung unterwegs ist. Um nachzuschauen, ob jemand Hilfe benötigt.
Von René Putjus